Seit jeher beschreibt der Wald einen Ort außerhalb der Zivilisation, außerhalb der Gesetze, außerhalb städtischer Gerichtsbarkeit, den Gegenentwurf zum urbanen Leben in der Gemeinschaft. Er lag jenseits der sicheren, wohlgeordneten Städte und Siedlungen und auch jenseits der cultura, des bebauten Landes. Im Lateinischen wie im Deutschen gehen Wald und wild, Silva und silvaticus, auf die gleiche Wurzel zurück.
Die andere Bedeutung des lateinischen Silva steht für ein im besten Sinne reiches, noch ungenutztes Material, eine ungestaltete, dichte Fülle, so dicht allerdings, dass eine besondere Eigenart des Waldes, nämlich seine Undurchdringlichkeit, seine Wildnis unverhoffte Gefahren birgt, allen voran die, sich in ihm zu verirren. Eine der berühmtesten metaphorischen Verirrungen im Wald findet sich am Anfang von Dantes göttlicher Komödie:
"Ich fand auf unseres Lebens halbem Wege
In einem dunklen Wald verirrt mich wieder,
Weil ich verloren mich vom rechten Stege.
Ha, wie er ausgesehen, ist hart zu sagen,
Der Wald, so wild und wüst und dicht verwachsen,
Dass in Gedanken sich erneut mein Zagen!" (Übersetzung R. Zoozmann)
Auch die Verwirrung der Gefühle angesichts der vielfältigen Erfahrungen der Liebe, des Begehrens und der Lust findet im Wald ihre Verortung. Spätestens seit der Romantik, als z.B. der Shakespeare-Übersetzer Ludwig Tieck die unberührte Natur und die "Waldeinsamkeit" zum Ort der inneren Erkenntnis erklärte, vermehren sich die Figuren der Bedrohungen, die für den Menschen vom Wald ausgehen: Das Fantastische und Unheimliche der Waldschrate, Elfen, Kobolde, Hexen oder Elementargeister enthält zunehmend deutlichere Verweise auf das gemeinte seelische unbewusste.
Ein Kenner der menschlichen Seele, auch und gerade ihrer Abgründe, aus denen sich das Unbewusste gerne zu Wort und Tat meldet, war William Shakespeare schon 200 Jahre vor den Romantikern. Innerhalb seines umfangreichen Gesamtwerkes, das sich als Panoptikum menschlicher Regungen beschreiben ließe, nimmt der Sommernachtstraum eine besondere Stellung ein: Es ist sein bis heute meist aufgeführtes und bewundertes Werk und das gewiss nicht ohne Grund.
So stand es am Ausgangspunkt zahlreicher Bearbeitungen und Überschreibungen, nicht nur die deutschen Romantiker bezogen sich begeistert auf ihn. Unter den Vertonungen findet sich die ihrerseits berühmt gewordene Bühnenmusik von Felix Mendelssohn von 1826 und eben die seines englischen Landsmannes Henry Purcell, die 1692, knappe 100 Jahre nach der Uraufführung von Shakespeares Sommernachtstraum entstand.
Die Masque Fairy Queen von Henry Purcell ist ein seltsamer Zwitter zwischen Oper und Schauspiel; entstanden als Bühnenmusik zu einer Aufführung von A Midsummer Night's Dream lassen sich die Songs und Instrumentalstücke überhaupt nicht eindeutig den einzelnen Szenen oder auch nur den vier Sphären zuordnen, die Shakespeare in seiner Komödie zum Leuchten bringt. Als wäre es mit den Handwerkern, den jungen adligen Paaren, dem Herzog von Athen und natürlich dem Oberon und Titania mitsamt ihrem Elfenvolk und Kobolden nicht schon genug an seltsamem Personal, gibt es in Purcells Fairy Queen zusätzlich noch ein chinesisches Paar, Hirte und Hirtin, einen betrunkenen Dichter u.a. Shakespeares Sommer-Nachts-Traum wird zum weitaus größten Teil im nächtlichen Wald geträumt: Dem Weber Zettel widerfährt hier sein berühmt gewordener Traum, den das Publikum als wirkliches Bühnengeschehen miterlebt - mit einem Eselskopf versehen die unvorstellbaren erotischen Erfahrungen gemacht zu haben. Er und seine Handwerkerkumpels haben sich im Wald für die Proben zu ihrem Theaterstück verabredet, das sie Theseus und Hippolyta zur Hochzeitsfeier darbringen wollen. Warum treffen sie sich eigentlich nicht in der Werkstatt eines von ihnen? Warum ausgerechnet im Wald?
Zwei Paare junger Liebender werden auf der Flucht vor den Konventionen, die Eltern und Gesetz von ihnen einfordern, in einer einzigen Nacht im Wald alle Höhen und Tiefen der Liebe erfahren. Und die Elfen, Kobolde, Fantasiefürsten bilden ohnehin seit jeher den Quell größter Unberechenbarkeit. Ihr Spaß an der Verwirrung, an vor allem erotischer Grenzüberschreitung muss jeden menschlichen Waldbesucher überfordern (Immerhin geht der Streit zwischen Oberon und Titania um einen indischen Edelknaben, auf den beide ihre Ansprüche anmelden. Was für Ansprüche?). Ob Absicht und Nachlässigkeit, diesem Waldvolk ist jedenfall nicht zu trauen. Traum und Albtraum, Bewusstes und Unbewusstes liegen so nah beieinander wie die beiden Liebespaare, als sie sich endlich erschöpft zwischen den Bäumen zum Schlafen niederlegen.
Fairy Queen folgte nicht dem Shakespeare'schen Szenenverlauf, Purcell verwendete den Sommernachtstraum eher als Steinbruch und reicherte das Welttheater seines Landsmanns an mit zusätzlichen Szenen und Figuren: Allegorien der vier Jahreszeiten, der Nacht oder des Geheimnisses u.a.
Für dieses gestaltete Konzert haben wir einiges davon herausgenommen und den Stoff wie die Musik in bester Tradition als Steinbruch begriffen, ein Steinbruch voller Edelstein, von denen wir einige neu einfassen.
Auch bei uns verlässt ein junges Paar die Stadt, um nach einigen musikalischen Ausflügen durch Wald und Wildnis gleich nebenan, wie sie sich in den Fotos aus dem Zyklus "Zeitraum Örfla" des Fotografen René Dalpra und den Soundscapes mit Waldgeräuschen von Matthias Urban widerspiegelt, am Ende in die Sicherheit der Stadt zurückzufinden.
Dreimal werden sie für Eugen Drewermann, unserem Experten für Fragen des Unbewussten und des Glaubens, auf ihrer musikalischen Wanderung innehalten, um mit uns zu lauschen, was er aus seinem Erfahrungsschatz zu Wald und Traum zu berichten weiß.
Ilka Seifert
Ein deutsches Requiem op. 45 von Johannes Brahms
"Ich gebe zu, dass ich recht gern auch das Deutsch' fortließe und einfach den Menschen' setzte." Johannes Brahms an Carl Martin Reinthaler (Brief vom 9. Oktober 1867)
EIN DEUTSCHES REQUIEM zählt sicher zu den berühmtesten Werken von Johannes Brahms. Schon dieser vom Komponisten selbst gewählte Titel ist ungewöhnlich. Er verweist vor allem darauf, dass dieses Requiem in deutscher Sprache verfasst ist und sich darin von einer lateinischen Totenmesse unterscheidet. Aber Brahms ließ mit diesem Werk die katholische Liturgie nicht nur in Bezug auf die Sprache hinter sich: Er selbst stellte aus der Bibel die Verse für seine Komposition neu zusammen und an den ausgewählten Texten und deren enger inhaltlichen Verschränkung, ob sie nun dem Alten oder dem Neuen Testament entstammen, lässt sich nachvollziehen, wie gut der Komponist seine Luther-Bibel gekannt haben muss.
Anders als in einer katholischen Totenmesse, wo der liturgisch wichtige Abschnitt des Dies irae die Angst vor dem Jüngsten Gericht und vor einem strafenden Gott in den Vordergrund stellt, ging es Brahms in seinem Requiem um Tod, Trauer und Leid, aber vor allem um den Trost für die Lebenden, eben für die Menschen, die er am liebsten auch im Titel benannt hätte. Mit dem neuen Titel HUMAN REQUIEM setzt diese Produktion des Rundfunkchors Berlin Brahms Wunsch gewissermaßen in die Tat um.
Die Entstehung der Komposition erstreckte sich über mehrere Jahre: erste Überlegungen zu einem Requiem gehen auf das Jahr 1856 zurück, in dem Robert Schumann, einer der wichtigsten Förderer und Freund des jungen Komponisten, früh und unter unglücklichen Umständen starb. 1861 stellte Brahms die ersten Texte zusammen, die ersten beiden Sätze entstanden und mit dem Tod der Mutter 1865 nahm das Projekt weiter Konturen an: Es entstand zunächst eine Fassung als Choralkantate aus den heutigen Sätzen 1-4. Am 10. April 1868 wurde das Werk mit insgesamt sechs Sätzen (noch ohne den heute fünften) unter der Leitung des oben genannten Briefadressaten Carl Reinthaler in Bremen uraufgeführt.
In der letzten Fassung, die am 18. Feb. 1869 in Leipzig ihre Premiere erlebte, umfasst sein Requiem schließlich sieben Sätze, die vollkommen zwingend in ihrer Reihenfolge wirken, weil sie jeweils thematische oder musikalische Klammern ausbilden, die eine starke symmetrische Struktur um die Mittelachse des vierten Satzes aufweisen, der aber entstehungstechnisch in der ersten Fassung einmal der letzte Satz war.
Tonartlich und von der Textauswahl her beziehen sich der erste und der letzte Satz aufeinander. Das Requiem beginnt mit dem Wort,,selig" und es endet auch mit ihm.
Der zweite und der sechste Satz thematisieren beide die Verwandlung, die mit dem Tod durchschritten wird, die Sätze 3 und 5 sind diejenigen mit den Soli für Bariton (3. Satz) und Sopran (5. Satz) und im Zentrum, dem vierten Satz, bilden die "lieblichen Wohnungen" die besagte Achse, um die sich die anderen Sätze gruppieren.
Der Rundfunkchor Berlin stellt sich seit einiger Zeit mit der Reihe "Broadening the Scope of Choral Music" die Aufgabe, neues Repertoire und/oder neue Aufführungsformen für Chormusik zu entdecken und zu entwickeln. HUMAN REQUIEM nimmt in dieser Reihe eine wichtige Stellung ein. Mit der Premiere vor über zehn Jahren im Berliner Radialsystem erlebte diese Produktion eine echte Erfolgsgeschichte. Eindrücklich bringen die Sänger:innen den zentralen Gedanken der Komposition dem Publikum buchstäblich nahe. Der Begriff Immersivität scheint für kaum eine Aufführung so stimmig, wie gerade für diese Umsetzung. Publikum und Chor begegnen sich in unmittelbarer Nähe, die Sänger:innen geben den Trost musikalisch an die Zuhörenden weiter. Für eine gute Stunde findet sich eine Gemeinschaft aus Singenden und Zuhörenden in einer Art musikalischem Ritual zusammen.
Für einen Konzertchor ist das nicht selbstverständlich, genauso wenig, wie eine solche Komposition komplett auswendig aufzuführen, von der besonderen Raumgestaltung ganz abgesehen, die Brad Hwang eigens entworfen hat. Der Künstler kommt aus dem Feld der sozialen Plastik. Die "lieblichen Wohnungen", die Brahms im zentralen vierten Satz beschreibt, werden von ihm sorgfältig und fürsorglich angelegt. Es gibt Übergangsräume, Orte, wo man seine Habe und im besten Falle auch seinen Alltag zurücklassen kann, das Publikum ist eingeladen, die Schuhe ausziehen, die Schwelle zum Aufführungsort zu überschreiten. Die Inszenierung des Teams um Jochen Sandig nimmt auf verschiedene Rituale Bezug, lädt das Publikum ein, sich im Raum frei zu bewegen, zu sitzen, stehen, liegen usw.
Die hier zu erlebende Fassung für zwei Klaviere stammt von Brahms selbst. Für die angestrebte Umsetzung ist die Konzentration auf den Chor und damit auch den Text hervorragend geeignet.
Ilka Seifert
Vom 28.-31. Juli 2022 findet erstmals in Fürstenfeldbruck ein neues Chorfestival statt: vokalSinn. "Chormusik anders Denken" haben sich die Macher:innen auf die Fahnen geschrieben. Sinn(e) & Vokalmusik in 6 hochklassigen Konzerten & 6 inspirierenden Workshops. Die Konzert-Dramaturgin Ilka Seifert bietet im Rahmen des Festivals eine Masterclass zum Thema Konzertdesign an. Ich habe mich mit ihr dazu unterhalten.
Nina Ruckhaber: Sie haben in den letzten Jahren viele installative Konzertformate und spannende Konzertperformances entwickelt. Worin liegt für Sie persönlich der Reiz, sich mit musikalischen Werken so detailliert für die Bühne auseinanderzusetzen? Ilka Seifert: Für mich steht das besonders intensive Konzerterlebnis im Ausgangs- und Mittelpunkt meiner Arbeit als Konzertdesignerin. Es geht dabei darum, auch für ein mit den Ritualen des Konzertbetriebs der "klassischen" Musik nicht vertrauten Publikum künstlerisch zu formulieren, was diese Musik bzw. das jeweilige Programm mit den Hörenden zu tun haben könnte. Warum sollte jemand sich gerade für diesen Konzertabend entscheiden? Das ist für mich keine Frage des Marketings, sondern eine des Inhalts. Gleichzeitig versuche ich, das, was ich subjektiv als den besonderen Wert der vorgetragenen Musik erkenne, besonders herauszustellen. Die Mittel für diese beiden Ziele können von Konzert zu Konzert sehr unterschiedlich sein und die Musik ist es ja in der Regel auch. Für mich wird es also nie langweilig.
Im Rahmen des vokalSinn-Festivals bieten Sie zusammen mit Prof. Andreas Herrmann die Masterclass "Lichtgestalten" als Dirigier- und Konzertdesignkurs an. Worauf dürfen sich die Teilnehmenden freuen?
Im Zusammenspiel der Architektur, also der vorgegebenen Räumlichkeiten mit der ausgewählten Musik möchte ich mit den Teilnehmer:innen der Masterclass einen Parcours für den Projektchor entwerfen, der uns für die einzelnen Stücke an verschiedene Stationen führt und das Publikum einlädt, uns buchstäblich zu folgen. Das musikalische Programm dreht sich um Lichtgestalten, um Engel also, und wir wollen dafür auch das Licht gestalten....
Sie haben bereits mehrere Produktionen mit Chören gestaltet. Was ist Ihnen in der Zusammenarbeit mit Chorsänger:innen besonders nachhaltig in Erinnerung geblieben?
Für mich stellt ein Chor so etwas wie die Welt im Kleinen dar: Es gibt die Begeisterungsfähigen, die Skeptischen und die, die sich zwischen diesen beiden Polen je nach der stärkeren Zugkraft ausrichten. Ein singendes Ensemble, das seine Positionen im Raum verändern kann, ist eine sehr starke Kraft und anders als mit vielen anderen Instrumenten können sich die Chorsänger:innen relativ frei bewegen. In den beiden letzten Projekten mit großen Chören gerade in den letzten Wochen spielte die Immersivität eine besondere Rolle. Welche Nähe zwischen den Mitwirkenden und dem Publikum lässt sich herstellen? Ob das HUMAN REQUIEM mit dem Rundfunkchor Berlin (gerade in der Liederhalle in Stuttgart) oder die ZEIT.DIMENSIONEN mit dem Chor der Kantor:innen im Bunker Valentin in Bremen - in beiden Fällen waren es starke eindrückliche Begegnungen in beide Richtungen.
Wenn Sie ein musikalisches Werk frei wählen dürften, welches Werk würden Sie gerne in der Zukunft designen?
Ich designe keine Werke, sondern Konzert(format)e. Den Begriff Konzertdesign haben wir irgendwann mal gewählt, weil er sich von der "Dramaturgie" frei macht und viel umfassender ist, also neben der musikalischen Programmauswahl auch den Raum, das Setting, das Licht, den Kontext, andere Medien und Künste usw. miteinbeziehen kann. In den letzten Jahren hat sich für ich in der Rückschau gezeigt, dass ich die Kombination aus Zeitgenössischer und Alter Musik fast immer als sehr anregend erlebe. Werke aus einer jeweils anderen Perspektive zu hören, verleiht meist beiden Musikrichtungen wechselseitig eine größere Plastizität. Als Nächstes werde ich mich mit Buxtehudes "Das Jüngste Gericht" beschäftigen und einen Komponisten dazu einladen, seinen zeitgenössischen Blick darauf musikalisch zu formulieren.
Paul Lincke - eine Stadt findet ihre Operette
Der Name des Komponisten von Frau Luna steht wie kein anderer für den Beginn der Berliner Operette. Musikhandwerker von der Pike auf hat sich Paul Lincke mit Begabung, Witz und Fleiß zu einem Stardirigenten, erfolgreichen Komponisten und vermögenden Musikverleger hochgearbeitet und dennoch seine kleinbürgerliche Herkunft nie aus den Augen verloren. "Frau Luna" ist unumstritten sein bekanntestes und erfolgreichstes Werk.
Um 1899, als Frau Luna uraufgeführt wurde, waren Rixdorf (das heutige Nord- Neukölln), Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf, Lichtenberg und Spandau noch kreisfreie Städte, der Rest ländliche Kommunen.
Die Neuberliner kamen aus den deutschen Ostprovinzen, aus Sachsen, Schlesien, Ostpreußen, aber auch aus Österreich-Ungarn, Polen und Russland. Berlin lockte mit dem Versprechen eines modernen Lebens. Wie heute waren die gebürtigen Berliner gefühlt in der Minderheit. In einer aus den Nähten platzenden Stadt, die viel mehr Zugezogene als Einheimische hat, muss das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, die Frage, was genau einen eigentlich ausmacht, immer mehr an Bedeutung zunehmen.
Also wer - oder besser wie war er überhaupt - der Berliner?
Die Figuren der eben jetzt entstehenden Berliner Operette und allen voran von Frau Luna atmen etwas vom Berliner Zeitgeist um 1900: Fritz Steppke, der sich mit Erfindungsreichtum und unternehmerischem Mut der Raumfahrt verschrieben hat, Witwe Pusebach, die ihre Wohnung vermieten muss und mit Herz und Schnauze ihre Nichte und ihre Altersversorgung zu retten versucht, Steppkes Kumpels, der Schneider Lämmermeier (zugereist aus Sachsen, in unserer Inszenierung aus gutem Grund aus Franken) und der Steuerbeamte a.D. Pannecke, die sich von dessen verrückter Idee einer Expressballonfahrt zum Mond begeistern lassen. Man ist schlagfertig, einfallsreich, dynamisch, sympathisch- und man berlinert um die Wette.
Der Kalauer, wie überhaupt der Sprachwitz hat Hochkonjunktur, man witzelt über Tagesaktuelles, über Bauspekulanten, über Trichinen in der Wurst und das Automobil, das gerade die Straßen erobert. Und selbst auf dem Mond sind sich die Reisenden am Ende sicher: Am allaschönsten is et aba doch in Balin, wa?
Lincke und Bolten-Baeckers hatten ähnlich wie Heinrich Zille den so genannten kleinen Mann vor Augen, sie nahmen einfach ihr eigenes Umfeld zum Ausgangspunkt, das machte sie authentisch. Frau Luna wurde allein in den ersten beiden Jahren nach der Uraufführung im Apollo-Theater 275 Mal gegeben, und das fasste immerhin 1.400 Plätze. Das Publikum muss etwas vonseinem eigenen Lebensgefühl in dieser wie auch den folgenden Operetten aus der Feder dieses Autorenpaares wiedergefunden haben. Geglückte Selbstvergewisserung inmitten einer auseinanderberstenden Stadt.
Buchstäblich am Ufer der Spree geboren hat Lincke nur wenige Jahre seines Lebens nicht in Kreuzberg SO36 zugebracht. Er wohnte in der Adalbertstraße, Eisenbahnstraße, später und bis 1943 in der Oranienstraße 64, am Moritzplatz, wo sich auch eine von ihm gegründete Musikalienhandlung und der Sitz seines Apollo-Verlags befand.
Die meisten der Theater und Variétés am Anfang seiner Karriere in den 1890er Jahren befanden sich ebenfalls im heutigen Kreuzberg, so z.B.:
- Odeon - Parodietheater, Oranienstr. 52 (heute Waldeckpark neben der Bundesdruckerei)
- Central-Theater, Alte Jakob-Str. 30/32 (900 Sitzplätze).
- Apollo-,,Spezialitätentheater", Friedrichstr. 218, (1.400 Sitzplätze) (untere Friedrichstraße, neben dem heutigen Einwohnermeldeamt)32In den Nachbarbezirken Mitte und Friedrichshain arbeitete er im
- Ostend-Theater, Große Frankfurter Straße 132 (heute Karl-Marx-Allee 78-84) oder im
- Königstädtischen Theater, Blumenstr. 9b, Alexanderplatz (1.500 Sitzplätze)
Die Gründerzeit führte zu einer Ausdifferenzierung der privaten, nicht subventionierten Theater, deren künstlerisches Profil sich mit dem jeweiligen Betreiber radikal verändern konnte. Das Ostend-Theater, an dem Lincke 1885 seine ersten Erfahrungen als Korrepetitor musikalischer Lustspiele sammelte, wurde z. B. einige Jahre später vom Flugpionier Otto Lilienthal übernommen, der als Direktor Klassikeraufführungen zu erschwinglichen Preisen für Arbeiter programmierte und auch selbst als Schauspieler oder Autor einsprang. 1894 wurde dessen Stück Gewerbeschwindel dort uraufgeführt.
DeetiFlugenschdeIn Berlin gab es neben der Königlichen Hofoper Unter den Linden und dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt unter den privat geführten Theatern allein elf, die ein eigenes Orchester unterhielten. Viele dieser Etablissements bespielten in der Sommerpause innerstädtische riesige Gärten. Die dortigen Konzerte wurden an den Wochenenden von tausenden Vergnügungswilligen besucht. Die Dirigenten waren stadtbekannt, die dort erklingenden Schlager wurden zu der Musik, mit der und in der Berlin lebte. Auf Walzen gestanzt brachten sie Leierkästen in die Hinterhöfe der Mietskasernen, mechanische Klaviere sorgten ab 1900 für ihre Verbreitung.
Über die Entstehung des Schlagers,,Ach Schaffner, lieber Schaffner" ist kolportiert, dass die beiden Autoren der Frau Luna bei einer (vermutlich kühlen) Molle im Biergarten saßen und einen schnellen Einfall, Lincke erst die Melodie, Bolten-Baeckers danach die Verse auf den Rand einer Zeitung notierten. Die mer Bierlaune sollte den beiden später eine stattliche Tantieme bescheren. ere Vielleicht befand sich dieser Biergarten "In den Zelten": Ganz Berlin zog es kon schließlich im Sommer zu dieser Adresse und in die Ausflugslokale am Rande des Tiergartens.
Metropole im Werden
Paul Lincke verließ seinen Kiez auch nicht, als er bereits zu Ruhm und Vermögen gelangt war und andere sich schon am grüneren Rand der Stadt ihre Villen bauen ließen. Kreuzberg, Mitte, Friedrichshain, das waren dichtbebaute Stadtteile, Mietskasernen mit mehreren Hinterhöfen, von denen immer mehr gebaut wurden, um dem unerhörten Zustrom nach Berlin zu bewältigen.
War Berlin 1866, als Lincke geboren wurde, noch eine Stadt von ca. 650.000 ache Einwohnern, so drängten sich 1904, als er die "Berliner Luft" komponierte, bereits 2 Mio. Menschen in den heutigen inneren Bezirken Mitte, Friedrichshain, Kreuzberg, Wedding, Prenzlauer Berg und Tiergarten. Die Adressbücher der Zeit sind voller Anzeigen von Bau- und Terraingesellschaften, die ihre Objekte an der Peripherie anboten. 1914 umfasste der Ballungsraum The Berlin bereits 3,9 Mio Menschen. Nach einem zeitweiligen Rückgang der Bevölkerung durch den 1. Weltkrieg wurde Groß-Berlin durch das las Eingemeindungsgesetz von 1920 nach London und New York zur drittgrößten Aur Stadt der Welt.
Ver Jahrhundertwende, Raumfahrt und Erfindergeist
Das heraufziehende neue Jahrhundert beflügelte die Phantasie. Erfindergeist lag in der Luft. In Südende (Steglitz), Lichterfelde sowie in Stölln, 60 Kilometer 258 westlich Berlins, entwickelte und erprobte der Maschinenbauingenieur und Luftfahrtpionier Otto Lilienthal seine Flugobjekte, 1896 verunglückte er bei einem Flugversuch am Gollenberg tödlich.
Als "verhinderte Weltausstellung" fand im gleichen Jahr die Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park statt. Auf einem Areal, das an Größealle vorausgegangenen Weltausstellungen in London, Paris oder New York überbot, präsentierten sich die Berliner Unternehmen mit ihren neuesten technischen Errungenschaften. Obwohl es dreiviertel der Ausstellungstage sc regnete, wurden 7 Mio. Besucher gezählt. Besonderes Interesse fand das von the Friedrich Simon Archenhold entwickelte Riesenfernrohr, das bis heute größte Linsenfernrohr der Welt. In Schmargendorf, wo sich die Gaswerke befanden,stiegen bald die Heißluftballons in den Berliner Himmel ...
Paul Lincke lässt sich vom Apollo-Theater für knappe zwei Spielzeiten und gutes Geld an die Folies Bergères, die sicher berühmteste Variétébühne der damaligen Zeit in Paris, abwerben. Er kommt aber schnell wieder zurück in seine Stadt. In Paris kennen gelernt haben könnte er Jacques Offenbachs Operette von 1875 über Jules Vernes Roman Reise von der Erde zum Mond (1865), der seinerseits eine einzige Lobpreisung amerikanischer Ingenieurskunst und französischer Nonchalance darstellt. Offenbachs Operette war zwar auch schon 1876 im Berliner Victoria Theater zu hören, aber da war Lincke selbst noch ein Steppke von 10 Jahren. Direkt nach der Rückkehr in seine Geburtsstadt bringt er mit seinem Freund Bolten-Baeckers 1899 den Einakter Frau Luna am Apollo-Theater heraus. Märsche und Walzer in Hülle und Fülle, ein ganzes Nest von Ohrwürmern.
Berlin bleibt doch Berlin
So weitläufig sich Berlin entwickelte, damals wie heute war die Welt des Theaters am Ende doch eine überschaubare. Und außerdem: Never change a winning team. Bolten-Baeckers und Lincke schrieben weiter ihre immer umfänglicheren Berliner Operetten und Revuen (Im Reiche des Indra, Donnerwetter, tadellos!). Linckes erste Ehefrau wie seine spätere Lebensgefährtin standen als Soubretten gleich mit auf der Bühne, man arbeitete en famille. Schließlich weiß man, auf wen Verlass ist, wenn man sich schon seit 100 Aufführungen kennt. Work in progress - gute Ideen waren immer willkommen.
Über 30 privat geführte Theater gab es in Berlin. Schon vor Frau Luna hatte Lincke an fünf bis sechs davon gearbeitet, es folgten noch andere, nicht zuletzt das Metropol (wo sich heute die Komische Oper befindet), Frau Luna, ergänzt um weitere Hits, die sich inzwischen aus anderen Operetten dieser beiden Autoren herauskristallisiert hatten z. B. die,,Berliner Luft" oder "Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe", bekam dort 1929 eine zweite Berliner Chance, die sie wie schon 30 Jahre zuvor erfolgreich nutzte.
In den 20er und 30er Jahren entwickelte sich Berlin endgültig zur Metropole miteiner legendären Vielfalt an Unterhaltungskultur, der die Nationalsozialisten und der 2. Weltkrieg ein Ende bereiteten.
Auch im heutigen Berlin gibt es innerhalb aller Genres künstlerische Familien. Anders als z.B. in Paris sind die jeweiligen Kreise viel weniger elitär und durchlässig. Kreativität und aufrichtige Liebe zum Entertainment wird in Berlin belohnt mit Lebensqualität und künstlerischer Wertschätzung.
Wenn es einen Ort, nein, natürlich zwei Orte in Berlin gibt, die die Tradition eines lebendigen Umgangs mit einer kreativen Unterhaltungskultur pflegen und die langfristige Arbeit mit ihren Künstler*innen hochhalten, dann sind es TIPI und die Bar jeder Vernunft, denen es - wie keinem anderen Theater der Stadt gelungen ist, ihr Programm aus einer spezifisch Berliner Szene heraus zu entwickeln und dabei eine ganz eigene Sogkraft zu entfalten. Queeres Leben findet hier wie vor 100 Jahren um die südliche Friedrichstraße und das Hallesche Tor ganz selbstverständlich statt.
Zur engeren künstlerischen Familie zählen seit den Anfängen in der Bar jeder Vernunft die Geschwister Pfister, Cora Frost, Pigor und Eichhorn, Johannes Roloff, um nur einige zu nennen. Aber auch Gustav Peter Wöhler, Ades Zabel, Sharon Brauner, Anna Mateur, Max Gertsch, Gert Thumser, Fausto Israel oder kurz gesagt: alle die Künstler*innen, die sich für die Berliner Operette Frau Luna zusammengefunden haben, stehen hier nicht zum ersten Mal auf der Bühne.
Das TIPI liegt zwischen "Schwangerer Auster" und "Waschmaschine", wie die Berliner das Haus der Kulturen der Welt und das Bundeskanzleramt zärtlich nennen. "In den Zelten" hieß die Adresse noch bis vor 15 Jahren, in den Zelten, also genau dort, wo die Berliner um 1900 in der Sommerfrische gerne mal abstürzten und bis in die Puppen feierten.
Die "Puppenallee", die parallel zum Brandenburger Tor und auf die noch vor dem Reichstag stehende Siegessäule (die "Goldelse") zulief, säumten etliche Statuen, 1895 frisch in Auftrag gegeben von Wilhelm II. Darunter befand sich auch eine von Otto dem Faulen mit umlaufender Bank. Die Puppenallee ist, wie Vieles in Berlin, dem zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen, aber am Rande des Tiergartens kann man noch heute wie Theophil vor 120 Jahren seine nächtlichen Abenteuer erleben...
Ilka Seifert
Über wundersame interkulturelle Paare und Grenzüberschreitungen aller Arten
Was sind das eigentlich für seltsame Ritter, verrückte oder verzauberte, was sind das für chinesische Prinzessinnen, verliebte Zauberinnen und kämpfende Sarazeninnen, die durch die einst viel gelesenen Werke Ariosts und Tassos geistern? Was hat die Zeitgenossen der beiden Dichter wie auch spätere Bewunderer wie Goethe, Hegel, Schlegel und Schelling, Karl May oder zuletzt Italo Calvino an diesen Versepen so fasziniert? Wieso hat dieses Romanpersonal so viele Komponisten zur Vertonung animiert, angefangen von Monteverdis Combattimento di Tancredi e Clorinda, Händels Rinaldo, Orlando, Alcina, oder - allein im Falle der Figur Orlandos - auch Vivaldi, Scarlatti oder Haydn, um nur die bekanntesten zu nennen?
Hand aufs Herz: Wer hat heute - außer aus professioneller Bestimmung- La Gerusalemme liberata (Das befreite Jerusalem) von Torquato Tassooder eben Lodovico Ariostos Orlando furioso (Der rasende Roland), dieseeinmal so bedeutenden Versepen wirklich gelesen? Formal sind uns jeneAbenteuergeschichten eher fremd geworden. Ihr dramatis personaejedoch und dessen Konflikte können uns immer noch oder sogar geradewieder eine Menge über unser eigenes Kulturverständnis erzählen. Werheute La Gerusalemme liberata aufschlägt, quält sich u.U. durch die ausführlichen Zweikämpfe hunderte von Versen hinweg, an deren Endeoft einer der Streiter entdeckt, dass er gegen den falschen Gegner gekämpft hat. Diese Kampfbeschreibungen können den Reiz doch nicht ausgemacht haben oder vielleicht doch? Wer kämpft da eigentlich gegen wen und unter welchen Bedingungen? Bei dieser Frage beginnt es plötzlich doch spannend zu werden, denn das quietschbunte Personal dieser Versepen führt einiges zusammen, was offenbar erstmal nicht zusammengehört. Die eindrücklichsten Auseinandersetzungen sind nämlich die, in denen sich zwei Liebende unterschiedlicher Kulturkreise gegenüber stehen: Der christliche Paladin Karls des Großen, der berühmte Orlando, trifft auf die chinesische Prinzessin Angelica, die Sarazenin Armida kämpft leidenschaftlich, wenn auch vergeblich, um die Liebe Rinaldos und qua Auftrag gegen das Heer der christlichen Kreuzritter vor den Toren Jerusalems, Tancredi merkt erst ganz am Ende seines wirklich mit Schwert und Rüstung ausgetragenen Kampfes mit undum Clorinda, dass es die Liebe seines Lebens war, die er gerade getötet hat. Ruggiero und Bradamante verkörpern eine wiederum andere unkonventionelle Paarkonstellation mit halb-muslimischen Mann und einer nicht nur um ihn kämpfenden christlichen Frau, die sich in unterschiedlicher Weise gegen die Zauberin Alcina in Händels gleichnamiger Oper zur Wehr setzen müssen.
Liebende und Feinde, mächtige, wenn nicht gar zauberkundige, so doch kampfstarke Frauen und ritterliche Helden, die durch Zauber oder Liebeswahn zumindest temporär ihren Verstand verlieren, der im Falle Orlandos zum Beispiel erst mühsam vom Mond wiedergeholt werden muss und zwar durch den Typus des besten Freundes, der aber über diese Funktion hinaus vergleichsweise langweilig daherkommt und für die größten verführerischen Reize eher unempfänglich ist. Bei Rinaldo sind es gleich zwei gute Freunde, die ihm die Zauberei Armidas enttarnen und ihn aus seinem orientierungslosen Zustand zurückholen in die Welt der Kreuzritter, wo er denn auch gleich die Schlacht um Jerusalem zugunsten des christlichen Heeres entscheiden muss. In moralischer Hinsicht trägt die Pflicht im christlichen Lager jedenfalls immer den Sieg über die Neigung davon. Einige der Sarazenen, wie die Muslime in den zeitgenössischen Übersetzungen dieser Epen genannt wurden, beschließen angesichts soviel Standhaftigkeit gegenüber den größten weiblichen Reizen und vorbildlichem Pflichtbewusstsein am Ende zum christlichen Glauben überzutreten, so zum Beispiel die sich geschlagen gebende Armida (mitsamt ihrem Ex-Geliebten, dem Feldherrn Argante) in Händels Rinaldo, oder die sterbende Clorinda (auch mit sarazenischen Wurzeln) nach ihrem Combattimento/Kampf in den Armen Tancredis,der mit Rinaldo im gleichen Kreuzzug gen Jerusalem unterwegs ist.
Die Protagonisten sind nicht immer wechselweise ineinander verliebt (oder nicht immer zur gleichen Zeit, denn auch in der Liebe ist alles eine Frage des Timing), aber sie stammen - heute würde man sagen - aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Die christlichen Ritter, sei es um Karl den Großen in Spanien, sei es als Kreuzzügler vor den Toren Jerusalems, haben eine von außen bestimmte Aufgabe, die Frauen zumindest einen Migrationshintergrund. Beider Begegnung verläuft größtenteils kriegerisch. Die Faszination, die vom Fremden und Unbekannten ausgeht, drückt sich in farbigen Darstellung der heidnischen Sarazenen, afro-asiatischer Exotik wie im Falle Angelicas und der ausführlichen Beschreibung ihrer verführerischen Schönheit aus, die sie wie im Falle Armida auch gezielt einzusetzen wissen. Bei den historischen Ereignissen, den Befreiungszügen in Spanien im 8.Jahrhundert oder in Jerusalem im 11. Jahrhundert, die mit unterschiedlichem Verfremdungsgrad auch den Opern Händels - Rinaldo, Orlando oder dem Combattimento Monteverdis - zugrunde liegen, ging es um die Begegnung unterschiedlicher Kulturen und den Kampf um die Vormachtstellung einer davon (wenn auch immer aus christlicher Perspektive). Darin artikulieren sich die gleichen Pole von Attraktion und Angst, die auch noch ganz aktuell die Begegnung fremder Kulturen und Religionen bestimmen. Und der Wahnsinn oder die Amnesie, wie sie die ritterlichen Helden Orlando oder Rinaldo zeitweilig erleben, lassen sich in diesem Zusammenhang als das Infragestellen der eigenen Identität begreifen, die Chance wie Schrecken jeder intensiven Begegnung mit einer anderen, unbekannten Kultur darstellt. Und schon sind wir bei Fragen auf der Höhe unserer Zeit angelangt. Kleists Penthesilea - auch so ein Drama der Liebe unter Kämpfern unterschiedlicher kultureller Herkunft - bringt es auf den Punkt, wie nah Küsse und Bisse beieinander liegen können. Mit der Amazone Penthesilea teilen die Protagonistinnen bei Ariost oder Tasso und in der Folge eben auch bei Händels Vertonungen ihren androgynen Charakter. Frauen, die ebenbürtig mit Männern kämpfen oder sie zu befreien imstande sind, in Hosenrollen singen und in tieferer Lage als die titelgebenden Helden. Nicht ohne Grund hat sich die Schriftstellerin Virginia Woolf am Ende des 19. Jahrhundert das androgyne Schillern bei der Namensgebung ihres erfolgreichsten Romans, der fiktiven Biographie Orlando, zu eigen gemacht.
Mit Orlando haben die diesjährigen Händel-Festspiele ein Stoff in den Mittelpunkt gestellt, der das Thema der Begegnung von Christen und Sarazenen/Muslimen, Gläubigen und Ungläubigen auf vielfältige Weise künstlerisch durchdekliniert. Die Regie der gleichnamigen Oper von Georg Friedrich Händel wurde Nico and the Navigators, der Truppe um die Regisseurin Nicola Hümpel anvertraut. Deren Arbeiten suchen gleichermaßen die Begegnung mit dem Unbekannten, die Erkundung einer terra incognita, ob in einem Abend über das Wesen der Freundschaft mit dem beredten Titel Obwohl ich Dich kenne... oder zuletzt in dem Händel-Pasticcio Anaesthesia, die nicht nur and the Navigators zeigen, zu welch eindrücklichen Momenten dasgenretechnisch über den Tellerrand klassischer Opernregie lugen. Nico gleichberechtigte Zusammenwirken von Sängern, Tänzern, Schauspielern und Akrobaten - Ganzkörperpoeten, wie sie sich selbst mit gutem Grund nennen - führen kann.
Dass die Begegnung mit dem Fremden und die Auseinandersetzung mit zunächst unbekannten Positionen, Haltungen Arbeitsweisen auch in ästhetischen Fragen neben der notwendigen Verwirrung, die sie anfangs oft stiftet, eine große Bereicherung darstellen und zu im besten Sinne überraschenden Ergebnissen und Innovationen führen kann, davon zeugen viele künstlerische Projekte die - wie Nicola Hümpels Arbeiten Sparten- und Genregrenzen hinter sich lassen. Auch Orlando scrapped, das Tanztheaterprojekt von COCOONDANCE, das barocke Kostümpracht und barocke Arien mit der Bewegungssprache des zeitgenössischen Tanzes und mit neuer Musik konfrontiert, spürt Ariosts poetischer Antwort auf die Erfahrung von der Pluralität der Welt nach. Ob sich die Instrumentalisten der Akademie für Alte Musik Berlin in dem choreographischen Konzert 4 Elemente - 4 Jahreszeiten zu Vivaldis Violinkonzerten virtuos spielend im Raum bewegen, ob elektronische Musik mit ihren vielfältigen klang Technischen Möglichkeiten sich des Originalklanges eines der Barockmusik verpflichteten Kammerensembles annimmt wie in Falle der Barock-Lounge, ob sich Rockmusik und Klassik annähern oder ihre Unterschiedlichkeit formulieren wie bei Bridges to Classics oder - und da wären wir fast wieder am Ausgangspunkt - ob ein explizit interkulturelles Projekt wie Armida statt Rinaldo die direkte künstlerische Begegnung verschiedener Ensembles und Musizi erweisen aus unterschiedlichem kulturellen Kontext erprobt - in allen diesen Programmen geht es um die künstlerische Begegnung einander zunächst fremder Kulturen bzw. Kommunikationsweisen.
Der Musik(theater) betrieb hat sich lange als besonders konservativ in der Abgrenzung der Genres erwiesen. Nicht ohne Grund ist in den letzten Jahren die Tendenz und die Bereitschaft zu spartenübergreifenden Projekten allgemein gestiegen, die aus dieser Interdisziplinarität einen ungeheuren Schub an Inspiration und künstlerischer Innovation erfahren haben.
Bleibt nur noch, uns wie die Protagonisten Ariosts und Tassos auf die Faszination des Fremden und Unbekannten einzulassen mit allen Gefahren und Erschütterungen der eigenen Selbstverständlichkeiten, die das Betreten einer terra incognita in Liebesdingen wie in religiösen oder künstlerischen Fragen mit sich bringt.
Ilka Seifert
RAVEL UND STRAWINSKY, PARIS UND BRAUNSCHWEIG
Maurice Ravel und Igor Strawinsky zählen zu denjenigen Komponisten, die neben Debussy, Satie und der Groupe des Six das Musikleben im Paris des frühen 20. Jahrhunderts maßgeblich prägten. Ungeachtet ihrer individuellen kompositorischen Sprachen verbindet beide – im Unterschied beispielsweise zu Debussy – ihre Nähe zum Tanz und zum Ballett, demjenigen Genre, von dem zu dieser Zeit die wichtigsten künstlerischen Impulse ausgingen. Die bedeutendsten bildenden Künstler, unter ihnen Picasso, Braque oder Matisse, entwarfen Bühnenbilder und Kostüme für die Ballets russes, die Serge Diaghilew auf dem Spielplan der Pariser Opernhäuser fest verankert hatte. Tänzer und Choreographen wie Vaslav Nijinsky, Anna Pawlowa, Michel Fokine, Léonide Massine oder George Balanchine arbeiteten für diese Compagnie.
Märchenstoffe hatten nicht nur in Paris Hochkonjunktur in der Zeit unmittelbar vor und nach dem ersten Weltkrieg: Puccinis exotische »Turandot«, Debussys fremdartige "Pelléas et Mélisande", Rimsky-Korsakows "Der Goldene Hahn". Strawinsky hatte als 20-Jähriger parallel zum Jurastudium in St. Petersburg privaten Kompositionsunterricht bei Rimsky-Korsakow aufgenommen. In der Zusammenarbeit mit dem Musiker und Literaten Stepan Mitusow hatte Strawinsky bereits 1908 begonnen, auf der Grundlage des Kunstmärchens "Die Nachtigall" ("Nattergalen") von Hans Christian Andersen eine Textfassung für seine avisierte erste Oper zu entwerfen. Den ersten Akt, noch dem musikalischen Stil der Schule seines Lehrers verbunden, beendete er im Folgejahr, in dem er auch Serge Diaghilew kennen lernte. Strawinskys bahnbrechende Erfolge in den nächsten Jahren in Paris verdanken sich in besonderem Maße diesem umtriebigen, wachen und künstlerisch innovativen Impresario der Ballets russes. Er hatte das Talent Strawinskys bei einer Petersburger Aufführung des "Feu d’artifice" erkannt und sein Vertrauen in den jungen Komponisten wie seine Aufträge für "Petruschka"("Pétrouchka"), für den "Feuervogel ("L’Oiseau de feu") und nichtzuletzt für den skandalträchtigen "Sacre du printemps", hielten Strawinsky davon ab, an »Le Rossignol« (»Solovej«) weiterzuarbeiten. 1913, nach der unerhörten Uraufführung des »Sacre« trug die gerade neu gegründete Freie Bühne Moskau die Bitte an den Komponisten heran, die Oper »Le Rossignol« doch noch zu vervollständigen. Da sich der Komponist in der Zwischenzeit musikalisch weit vom Stil seine früheren Jahre weg entwickelt hatte, zögerte er lange, bis er sich entschloss, den ersten Akt gleichwohl so zu belassen und den zweiten und dritten in seiner aktuellen Sprache zu formulieren.
Bis Strawinskys seine erste Oper beendet hatte, war das Theaterunternehmen allerdings bereits pleite gegangen und Diaghilew, der gerade seine Tanzcompagnie um etliche Sänger für die Pariser Erstaufführung der Oper "Der Goldene Hahn" ("Le coq d’or") erweitert hatte, brachte "Le Rossignol" dort 1914 zur Uraufführung – und zwar in einer Inszenierung, die ihrerseits von der Choreographie ausging: Tänzer und Tänzerinnen erzählten die Handlung mimisch, während die Sänger und Sängerinnen im Orchestergraben standen. Gesungen wurde auf russisch; dennoch hat sich der französische Titel durchgesetzt, die französische Fassung stammt von Michel Dimitri Calvocoressi, einem guten Freund Ravels. Der Oper war im ersten Anlauf kein großer Erfolg beschieden, zu den wenigen Kritikern, die sie positiv besprachen, zählte Maurice Ravel. Er lobte in der Zeitschrift Comoedia "die absolute kontrapunktische Freiheit, die gewagte Unabhängigkeit der Themen, der Rhythmen, der Harmonien […], eine neue Gestaltung, die vor allem mit dem jüngsten Stil Arnold Schönbergs zu vergleichen ist."
Im gleichen Jahr, 1914, kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges, bat der Direktor der Pariser Oper, Jacques Rouché, die bereits berühmte Autorin Sidonie-Gabrielle Colette, später nur noch Colette genannt, um das Szenario für ein Märchenballett (Féerie-ballet). Nach nur einer Woche legte sie ihm, selbst Mutter einer damals kleinen Tochter, den Entwurf für ein "Divertissement pour ma petite fille" vor, er brachte Maurice Ravel als Komponisten dafür ins Gespräch:
">Wir sollten uns aber darüber im klaren sein<, gab Rouché zu bedenken, >dass es lange dauern kann – vorausgesetzt, dass Ravel überhaupt annimmt<. Er nahm an. Und es dauerte lange. Er nahm mein Libretto mit und wir hörten nichts mehr von ihm und meinem L’Enfant…" (Colette)
Die Zusammenarbeit Ravels mit der berühmten Autorin, deren Roman "La Vagabonde" gerade für den Prix Goncourt, den nach wie vor wichtigsten Literaturpreis Frankreichs vorgeschlagen worden war, und die als Journalistin, singende und tanzende Chansonnière und auch durch ihren freizügigen, selbstbewussten Lebenswandel von sich Reden machte, war ein prestigeträchtiges Unterfangen. So charmant Ravels Musik daherkommt und so warmherzig Ravel als Freund beschrieben wird, so spröde charakterisierten Colette wie Strawinsky gleichermaßen die ersten Begegnungen mit dem Komponisten: "Persönlich war er sehr spröde und reserviert, und in seinen Bemerkungen waren häufig kleine spitze Pfeile verborgen. Mir war aber immer ein wirklich guter Freund." (Strawinsky)
Mit Ausbruch des ersten Weltkrieges verpflichtete sich Ravel freiwillig als Lastwagenfahrer in einem Artillerieregiment bei Verdun. Colettes Textentwurf erreichte ihn offenbar erst nach Kriegsende. 1919 begann seine Arbeit daran, die sich aber weiter über Jahre hinzog, und als der Direktor der Pariser Oper das gemeinsame Projekt längst aufgegeben hatte, feierte "L’Enfant et les sortilèges" 1925 seine umjubelte Uraufführung in Monte Carlo, um im Folgejahr mit nur mäßigem Erfolg an der Pariser Opéra-Comique aufgeführt zu werden. Als Fantaisie lyrique, nicht als Oper bezeichnete Ravel selbst sein Werk, das in der Aneinanderreihung sehr kurzer, stilistisch völlig unterschiedlicher Szenen fast an eine Nummernrevue erinnert. Neben Zitaten aus der französischen Volksmusik (für die Schäfer und Schäferinnen der zerrissenen Tapete), Anleihen an "Manon Lescaut" (beim Abschied von der Prinzessin), die Belcanto-Oper (für das Feuer) oder vokale Ensembles der Renaissance (im Schlusschor der Tiere und Pflanzen) hielt die Unterhaltungsmusik Einzug in dieses Werk: Ragtime, Foxtrott oder Blechbläsereinwürfe, die vom amerikanischen Jazz aus nach Europa gelangt waren und hier nicht nur von Ravel, sondern auch von Satie oder Strawinsky aufgegriffen und in ihre musikalische Sprache integriert wurden (wenn dies auch für "Le Rossignol" noch keine besondere Rolle spielen wird). In den "Valsesnobles et sentimentales" (1911/12), "La Valse" (1919/20) aus den Jahren zuvor und auch für »Das Kind und die Zauberdinge« ist der Walzer von besonderer Bedeutung. Hinsichtlich des Einsatzes von präpariertem Klavier, dem Luthéal, oder in der avancierten Behandlung der Gesangsstimmen, z.B. wenn es darum geht, Katzenmusik oder ein Froschkonzert kompositorisch festzuhalten, weist sich Ravel einmal mehr von einer ausgeprochen innovativen und experimentierfreudigen Seite.
"Das Kind und die Zauberdinge" lässt sich als Phantasmagorie beschreiben: Ein Kind wird von seiner Mutter bestraft, bekommt einen gewalttätigen Wutanfall und plötzlich wenden sich in einer ganzen Serie unheimlicher und zugleich komischer Szenen, Möbel und Geschirr, Tiere und Pflanzen gegen das Kind, um sich für die Quälereien und Verletzungen, die es ihnen angetan hat, zu rächen. Nach einem Prozess der Läuterung kann es endlich Mitleid mit all diesen Kreaturen empfinden und wird schließlich von ihnen sogar gerettet.
Um das Verhältnis von Mensch und Natur und gewissermaßen ebenso um einen Läuterungsprozess geht es auch in "Die Nachtigall". Wenn in diesem Märchen der Kaiser von China mitsamt Hofstaat den Vorrang des natürlichen, seelenvollen und freien Gesangs gegenüber der Künstlichkeit des mechanischen Imitatserkennen und anerkennen, gibt sogar der Tod den Kaiser wieder frei.
Verblüffenderweise verbinden die beiden Werke noch weitere Aspekte, u.a. das Spiel mit der Pentatonik, wenn es um das chinesische Kolorit geht, ob nun am Hofe des Kaisers oder in der Klage der vom Kind zerschlagenen chinesischen Teetasse oder auch am Anfang beider Werke, die beide musikalisch mit einem ähnlichen, wellenhaften Bewegung beginnen.
Ravel und Strawinsky kannten sich, wiederum durch die Vermittlung Diaghilews, gut und schätzten einander. Beide arbeiteten 1913 in dessen Auftrag gemeinsam in der Schweiz an einer Neuinstrumentierung von Mussorgskys "Chowanschtschina".
"Als Ravel in Clarens war spielte ich ihm meine "Poèmes japonais" vor. Alles, was instrumentale Ziselierung und Feinheit der musikalischen Handschrift ist, lockt und begeistert ihn, so bis er auch damals sofort an und beschloss, etwas Gleiches zu schreiben. Wenig später spielte er mir seine bezaubernden "Poèmes" nach Mallarmé vor." (Strawinsky, Erinnerungen)
1983 wurden diese beiden Kurzopern, die besetzungstechnisch nicht für Kammer-, sondern für große Orchester geschrieben wurden, offenbar in London erstmals gemeinsam aufgeführt, dort wurden allerdings zwei einzelnen Produktionen, die unabhängig voneinander und in anderen Konstellationen entstanden waren, neu kombiniert. Für das Staatstheater Braunschweig hat nun der Regisseur Paul Esterhazy beide Werke einander gegenübergestellt und gemeinsam mit der Ausstatterin Pia Janssen ästhetisch kontrastierend angelegt. In "LeRossignol" wird der statische Charakter der Handlung betont, wenn eine wohlgestimmte, feierlustige Dorfgemeinschaft, in der sich alle mit ihren guten und schlechten Angewohnheiten bestens kennen, gemeinsam ein Fest feiert. Die Gepflogenheiten lassen wie mancherorts den ein oder anderen schmackhaften Singvogel auf der Speisekarte der Festtafel zu. Der Weg, den Wert der Natur voraller künstlicher Nachahmung zu erkennen, führt am Sterbebett des Bürgermeisters vorbei.
Dem hellen Märchen, in dem sich die Natur im wunderbaren Gesang der Nachtigall Ausdruck gibt, steht die dunkle, alptraumhafte Rache einer beschädigten Umwelt, ob es nun Tiere, Pflanzen oder Gegenstände des Alltags sind, gegenüber. "L’enfant et les sortilèges" ist keine Kinderoper, auch wenn ein Kind imZentrum der Geschichte steht. Aber die Kinderperspektive ist das lockende Einstiegsangebot, die grausame und unheimliche Verwandlung der Alltags- in Zauberdinge mit ungeahntem Eigenleben mitzudurchleiden. Weil die Figurentextlich wie musikalisch von großem Erfindungslust sind, ist der Schrecken oft ein komischer und das Ende auch ein versöhnliches: Denn wenn das Kind die Erfahrung des Mitleidens gemacht hat, machen die Tiere und Pflanzen, Eichhörnchen, Libellen, Fledermäuse, Eulen, Frösche und Bäume den Weg frei, wieder zur Mutter zurückzugelangen.
"Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ur[sprünglichen] Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. [...] In dem ich dem gemeinen einen hohen Sinn, dem Ge- wöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen un- endlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. - Umge- kehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche - dies wird durch diese Verknüp- fung logarithmisiert - es bekommt einen geläufigen Aus- druck. Romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung." (Novalis 1797)
Die Romantisierung der Welt - Novalis und seine frühromantischen Mitstreiter, die Gebrüder Schlegel, Schelling, Wackenroder und Tieck, hatten kein geringeres Anliegen, als der bekannten, naturwissenschaftlich erforschbaren Welt eine zweite, unergründliche, mystische gleichberechtigt an die Seite zu stellen. Auf dem Weg dorthin wiesen
Friedrich Baron de la Motte Fouqué, wie auch Brentano, von Arnim und andere, verfassten Kunst-Märchen, »Prosavom Wunderbaren«. Allen voran wurde Fouqués Undine aus dem Jahre 1811 ein großer Erfolg, weil sie sozusagen exemplarisch einlöste, was Novalis in seinen Fragmenten zur Poesie für das Märchen gefordert hatte: >In einem echten Märchen muss alles wunderbar geheimnisvoll und unzusammenhängend sein - alles belebt. Jedes auf eine andre Art. Die ganze Natur muss auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt sein, Anarchie-die Zeit der allgemeinen-der Gesetzlosigkeit, Freiheit, der Naturstand der Natur, die Zeit vor der Welt (Staat). [...] Die Welt des Märchens ist die durchaus entgegengesetzte Welt der Wahrheit (Geschichte) – und eben darum ihr so durchaus ähnlich, wie das Chaos der vollendeten Schöpfung.<<<
Auch Fouqué hatte sein Kunst-Märchen mit seiner Ritter- und Standeswelt, nicht unbedingt märchentypisch, zeitlich im Mittelalter festgeschrieben. Sein Ritter Huldbrand (bei Lortzing: Hugo) begibt sich im Minnedienst, für die höhergestellte Fürstin Bertalda auf >>aventiure<<, auf eine abenteuerreiche, gefahren- volle Reise, die - bis eben die Geister ins Spiel kommen, so auch aus einem - mittelalterlichen Heldenepos stammen könnte. Erst beim Zusammen- treffen des Ritters mit der Naturgewalt des Wassers, das ihn auf einer Insel festhält, und durch die Begegnung mit dem Elementargeist Undine nimmt dieses Märchen seinen phantastischen und in diesem Sinne romantischen Verlauf. Auch wenn sich z. B. Schlegel und Tieck von Fouqué als Trivialautor distanzierten, war dessen Märchen so erfolgreich, dass der Dichter und Komponist E. T. A Hoffmann, seinerseits ein Experte fürs Phantastische, eine Oper über sie der Musik eine besondere Bedeutung zu; ihre Vorstellung von der Musik als einer für alle Menschen gleichermaßen verständlichen Universalsprache hat sich bis in unsere Zeit hinübergerettet.
Diese neue Künstlergeneration arbeitete an einem Gegenentwurf zur Aufklärung, die zwar den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit geführt, aber in allen spirituellen Fragen und Nöten allein gelassen hatte. Der dunklen Seite ließ sich nicht mit Vernunft und auf den vertrauten Wegen nahe kommen: Die künstlerischen Genres, die diese jungen Dichter und Philosophen neu ausbildeten, waren bewusst fragmentarisch, d. h. sie ließen Lücken frei für das Unerklärliche; das Phantastische zog ein, die Linearität der Erzählungen wurde zugunsten offener Dramaturgien aufgegeben. Das Märchen als der literarische Ort, an dem jenes Wundersame, übersinnliche Gestalt annehmen konnte, hatte Hochkonjunktur: Die Gebrüder Grimm begannen bald die mündlich tradierten Volks- Märchen aufzuschreiben, zu systematisieren und zu edieren, E. T. A. Hoffmann entwickelte seinen »phantastischen<><>< Erzählstil zur individuellen künstlerischen Sprache aus.
Fouqué war durch Jakob Böhme (1575-1624) auf Paracelsus' (eigentlich: Theophrastus von Hohenheim 1493-1541) Buch über das Wesen der Elementargeister gestoßen. Die von Paracelsus wohl mit naturwis- senschaftlichem Anspruch untersuchten Elementargeister waren gleichzeitig im Volks(aber)glauben an Melusinen, Sirenen, Nymphen oder Nixen wie der Loreley noch fest verankert. Es handelte sich also um einen Stoff, der sich der antiken Mythologie und den klassischen Idealen, an denen sich die Künstler bislang ausgerichtet hatten, entgegensetzen ließ. Das neue Interesse der Künstler am buchstäblich dunklen<«, weil bislang unerforschten Mittelalter erklärt sich aus dem Willen, sich mit der jüngeren, eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Man beschäftigte sich nun unter positiven Vorzeichen mit Architektur und Stilistik der Gotik.
Diesen Stoff schreiben wollte, für die Fouqué selbst den Prosatext zum Libretto umarbeitete. 1816 kam beider >>Zauberoper« im königlichen Schauspielhaus in Berlin heraus, am gleichen Ort übrigens wie 1821 Webers Freischütz, der seine durchschlagende Wirkung auch dem Phantastischen verdankt. Hoffmanns Undine hätte vielleicht noch andere Bedeutung erlangt, wären nicht bei einem Brand kaum ein Jahr nach der Uraufführung Kostüme und die aufwendigen Bühnenbilder von Karl Friedrich Schinkel vollständig zerstört worden, weshalb die Oper vergleichsweise schnell vom Spielplan verschwand.
Bevor Albert Lortzing sich diesem Märchen 1844 für seine erste Oper über ein tragisches Sujet zuwandte, entstanden in Europa allein sieben weitere Werke anderer Komponisten, darunter zwei Ballette und ein Festspiel, nach der Vorlage Fouqués. Lortzing verfaßte wie auch bei seinen anderen Opern das Libretto selbst, er hielt sich dabei an vielen Stellen erstaunlich eng an Fouqués Original. Spielte die Natur als Beschreibung der inneren Seelenzustände der Figuren für die Frühromantiker generell eine große Rolle, so trat bei Lortzing das Dämonischein den Hintergrund. Für die mittelalterlichen Weltentwürfe, die Welt der Fischer und der Ritter, die Gesellschaft von Hof und Land, die Menschen und Geister entwarf er hingegen klar unterscheidbare musikalische Typen und Formen. Auf dem Theater als Sänger wie Schauspielerin vielen komischen Rollen groß geworden, bevor er alsKomponist und vor allem als Kapellmeister seinen Lebensunterhalt verdiente, erfand er zwei Buffo-Partien,den Knappen Veit und den Kellermeister Hans, neuhinzu. Deren musikalische Nummern sorgen für eine klug gesetzte komische Durchwirkung dieser »großen lyrischen, romantischen Zauberoper mit allerlei Kanaillerien... außerst schlau bearbeitet "wie er einem Freund mitteilte. Er selbst bewertete Undine später als"das Beste", waser bis dahin geschrieben habe.
Heute liest sich Undine auch als die Geschichte einer modernen Frau, die aus Liebe zu einem Mann ihre besonderen Fähigkeiten freiwillig aufgibt, etwas Unergründliches gewinnt, aber dabei auch ihrer Zauberkräfte auf immer verlustig geht. Ingeborg Bachmann beispielsweise griff dieses Motiv in ihrer Erzählung Undine geht auf, gleichzeitig ist darin eine Anrufung der suggestiven Macht der Musik enthalten, für die der Name Hans (alias Huldbrand alias Hugo) steht.
Die eindrücklichsten musikalischen Momente hat Lortzing denn ganz selbstverständlich der Welt der Wassergeister vorbehalten, wenn Undine Hugo vom Wesen der Undinen und der Schönheit ihres Reiches am Meeresgrunde erzählt oder wenn zu ebendieser Musik die Geister ihren und auch ihres Geliebten "Schwanensang" anstimmen. "Auch wenn es gegen die poetische Gerechtigkeit verstößt" wie Lortzing selbst fand, ließ er seinen Ritteram Ende der Oper nicht wie in der Vorlage Fouqués sterben, sondern mit Undine vereint in jene magische Wasserwelt ziehen.
Frankfurt, 2. Mai 1845 Albert Lortzing an Philipp Reger
Mein liebster Herzens-Philipp! Vorgestern bin ich von meiner Reise zurückgekehrt, und zwar wirklich so, wie Du es in Deinem letzten Briefe, den ich heute empfangen, beschreiben. - Wenn Du in den Blättern ließest, dass die Aufnahme der Oper eine glänzende gewesen sei, so ist das wohl zu viel gesagt; die Aufnahme war eine für mich höchste ehren- volle und muss glänzend werden, wenn eine bessere Besetzung erfolgt. Ich sage Dir, es traf wieder alles zusammen, um der Oper den Hals zu brechen. Jenny Lind hatte das Publikum ausgesogen. Mit mir zog das herrlichste Wetter ein, wo in Hamburg alles aufs Land eilt. Die Darstellerin der Bertalda (Mad. Fehringer) wird drei Tage vor der Vorstellung krank, und Madame Cornet übernimmt die Partie; Undine (Dem. Jacques) ist ein junges, halberwachsenes Mädchen mit einer guten Stimme, Anfängerin in höchstem Grade und kaum sechsmal auf der Bühne gewesen; der Tenorist (Herr Peretti) ist höchst unbeliebt beim Publikum. Unter solchen Umständen sollte eine neue Oper gegeben werden und gefallen! Ich baute auf Mühldorfer, und der hat am Erfolge des ersten Abends großen Teil.
Das Publikum rief uns mehrere Male. Ich wurde rauschend im Orchester empfangen. Jetzt zur Oper selbst: sie muss gefallen. Du weißt, ich bin strenger Richter über mich selbst, aber ich versichere Dir, dass Musikstücke vorkommen, deren Effekte ich nicht geahnt hätte. Den Beweis, dass die Oper ohne alle >>s<< Zuthat gefallen muss, hast Du von Magdeburg. Der dortige Direktor brachte die Oper ein paar Tage früher heraus als Hamburg, hatte gar nichts angewendet, und sie gefiel so sehr, dass sie 4-mal hintereinander gegeben wurde, in Magdeburg! Das will etwas sagen. Kurz, lieber Philipp, ich glaube, meinem jüngsten Kinde ein günstiges Prognosticon stellen zu können und das ist einigermaßen ein Pflaster auf die Wunde, welche der gestrige Tag mir schlug – ich meine die offizielle Kündigung meines Enga- gements. Leipzig ist starr darüber und mich soll wundern, ob das Publikum seinem Unmuthe nicht Luft machen wird.
Friedrich de la Motte Fouqué Undine
Selben Augenblicks aber ward sie auch den Ritter gewahr und blieb staunend vor dem schönen Jünglinge stehen. Huldbrand ergötzte sich an der holden Gestalt und wollte sich die lieblichen Züge recht achtsam einprägen, weil er meinte, nur ihre Überraschung lasse ihm Zeit dazu, und sie werde sich bald nachher in zweifacher Blödigkeit vor seinen Blicken abwenden. Es kam aber ganz anders. Denn als sie ihn nun recht lange angesehen hatte, trat sie zutraulich näher, kniete vor ihm nieder und sagte, mit einem goldnen Schaupfennige, den er an einer reichen Kette auf der Brust trug, spielend: «Ei du schöner, du freundlicher Gast, wie bist denn endlich in unsre arme Hütte gekommen? Musstest du denn jahrelang in der Welt herumstreifen, bevor du dich auch einmal zu uns fandest? Kommst du aus dem wüsten Walde, du schöner Freund?>>>[...]
Paracelsus Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus
Denn Gott hat dermaßen dem Menschen gleich und so ähnlich geschaffen, dass ihm nicht Gleicheres sein mag, und da ein Wunderwerk mit lassen laufen, dass sie keine Seele haben; aber so sie mit dem Menschen in Bündnis kommen, alsdann gibt das Bündnis die Seele ... [...] Als einer, der eine Nymphe hat zum Weibe, der lasse sie zu keinem Wasser kommen, oder beleidige sie nicht auf Wassern [...] nämlich so sie bei Menschen vermählt sind und gebären bei ihnen Kinder, wie oben steht, als dann aber bei den Männern erzürnt werden auf den Wassern, und dergleichen: so fallen sie nur in das Wasser, und niemand findet sie mehr. Nun lasse sich's der Mann gleich sein, als sei sie ertrunken, denn er gesieht sie nimmer. Dabei ist auch zu wissen, dass er sie nicht soll für tot und gestorben halten, wiewohl sie in das Wasser gefallen ist, sondern für lebendig; und dass er auch kein ander Weib soll nehmen. Denn wo das geschieht, so wie er sein Leben darum geben müssen und nimmermehr an die Welt kommen; denn die Ehe ist nicht geschieden, sondern sie ist noch ganz
Ilka Seifert (IS): Ihr künstlerischer Werdegang führte Sie von der bildenden Kunst zum Bühnen- und Kostümbild, zu Räumen für Klanginstallationen und in den letzten Jahren nun auch zur Regie. Ihre künstlerische Fantasie drückt sich am stärksten in Räumen und Bildern aus. Wie sieht Ihr Arbeitsprozess für eine Inszenierung wie jetzt für die Undine aus? Wie würden Sie Ihren eigenen Vorgang des Bilderfindens beschreiben?
Claudia Doderer (CD): Das geschieht in zwei Parallelvorgängen; ich arbeite hier mit zwei Schichten, einmal dem ursprünglichen Märchen von Fouqué und dann mit Lortzings Musik. Bei beiden versuche ich aufs Wesentliche zu schauen, alles, was Zeit, Farbe, auch Klangfarbe betrifft, erst einmal auszublenden und zunächst nur die Musik zu >>lernen. Mit Lernen meine ich, so zu arbeiten, dass ich sowohl dem Märchen als auch der Musik auf einem ganz verkürzten Weg direkt ins Auge blicken kann. Danach kann ich wieder zurück und fragen: Was brauche ich? Was brauche ich auch atmosphärisch? Wie kann ich eine Figur wie zum Beispiel Bertalda in der knappsten und präzisesten, schärfsten Lortzingkontur, fast comicartig fassen.
Ich lege diese Schichten zunächst frei und versuche sie ganz ebenbürtig anzusehen, damit ich eine Farbe, eine Form - wie zum Beispiel das Wasser - daraus ziehen kann. Eigentlich ist das ein sehr konstruktivistisches Vorgehen, ein Freilegen und dann aber im gleichen Zug, auch ein Auffächern, ein Ausschmücken.
Ich will nie etwas weglegen, weil ich meine, dass die Geschichte es nicht braucht. Also z. B. will ich Bertaldas Schloss nicht ablehnen, weil ich es unnütz finde, auch wenn es so im Libretto steht. Was aber brauche ich vom Schloss? Sind es die Wandelgänge oder die Bögen, ist es die Höhe oder die Fallhöhe eines Schlosses? Ich will mir die Räumlichkeiten, die das Märchen beschreibt, in aller Ruhe angucken. Dafür muss ich die extremsten Erzählweisen auffächern, um sie dann auf ein Bildelement zu reduzieren, das trotzdem alles erzählt.
IS: Ihre beiden Quellen Fouqués Märchen und Lortzings Musik - haben aber ihrerseits unterschiedliche Erzählweisen der Geschichte der Wassergeister
CD: Ich habe beide Partner gleichermaßen zum Ursprung meiner eigenen Arbeit gemacht. Ich habe anfangs kapitelweise Bilder gemalt, mir ein Bilderbuch gemacht zu dem Märchen und dann an dem gleichen Tag bzw. in derselben Nacht die Oper gehört und Szene für Szene, Quartett und Finale, ebenso erforscht, ausgekostet. Ich nenne das >>auskosten<«. »Reduzieren<< klingt immer so mager, aber es ist ja nur anfänglich ein Verzicht. Wenn ich die Perle in der Auster habe, kommen die ganzen Perlmutt schichten von selbst.
IS: Undine ist ein romantisches Kunst-Märchen. Es geht also auch um Überhöhung
CD: Aber ich suche gar nicht so sehr die Überhöhung, eher die Verführung. Was ich gerne mag, ist selber verführt zu werden, ohne es zu merken. Oder wenn ich mir
IS: Gerade, wenn Sie die Solisten innerhalb einer musikalischen Ensemblenummer anordnen, hat man den Ein- druck, Sie bilden in der Aufstellung die musikalische Struktur nach.
CD: Sie meinen z. B. die Quartette? Ja, ich halte mich an die Musik, ich übergehe sie nie. Ich liebe es, wenn die Stimmen sich übereinander legen und trotzdem ihre Gleichberechtigung behalten. Nirgends sonst hat man diese räumliche Struktur (Das ist meine Eloge aufs Quartett.) Für mich ist die musikalische Form das spannendste Gegenüber - alles ist dort gleichwertig: der Ärmel wie der Hut wie der Kragen.
IS: Sie haben einmal bei der Undine von Gegensatz-Paaren gesprochen, z. B. Natur vs. Künstlichkeit. Wie wird das sichtbar?
CD: Die musikalischen Ebenen sind sehr gegensätzlich angelegt. Die Oper hat volksliedartige Züge und daneben z. B. lyrische Elemente. Ich fühle eine große Nähe zum durch die Genauigkeit die Freiheit vorbehalte, selbst überrascht zu werden. Wenn ein System klare Strukturen hat, beinhaltet es für mich die größtmögliche Freiheit. Meine Antriebsfeder ist dabei immer die Musik.
IS: Hören Sie auch synästhetisch?
CD: Ja, ich höre ganz plastisch. Für mich ist Musik drei-dimensional, wie eben Architektur. Ich kann mich hinein-begeben in die Klänge. Trotzdem bleiben sie natürlich abstrakt. Ich versuche, z. B. bei Lortzing das prägnanteste Motiv aus der Musik in einem Bild oder als Form zuhören, als etwas Architektonisches oder als eine Farbe, wie viel Farbe, wie viel Form, wie viel Architektur, wie viel Fläche. Ich habe ein Verlangen, Musik räumlich zu erkunden. Dem ist alles andere untergeordnet. Natürlich brauche ich das Märchen auch, um die Wege und die Figuren kennenzulernen, aber nie psychologisch, sondern durchs Hören.
Komponieren im wahrsten Sinne des Wortes. Für mich ist dies die stärkste Kunst, die aber Raum und Licht braucht. Ich will ja nicht Unnützes oder Überflüssiges ergänzen. Alles muss sich gegenseitig stärken, und Schönheit entsteht, wenn sich diese Teile gegenseitig erhöhen können und ungebunden, frei sein können.
IS: Undine war Lortzings erste Oper mit einem romantischen, der Vorlage nach tragischen Sujet, und er war sich des Neuen daran bewusst. Zunächst hat er aber erst einmal zwei komische Figuren hinzuerfunden.
CD: Ja, das konnte er einfach gut, das war der Zeitgeist, und damit hat er zunächst angefangen. Aber auch meine Entscheidung, die gesprochenen Dialoge zu streichen, die ja insbesondere diese Rollen betrifft, entspringt der klaren Geisteshaltung, vor allem der Musik die Hand zu geben.
IS: Wie verhält es sich mit anderen Komponenten, Bühnenbild oder Kostüm?
CD: Vom Boden würde ich gerne erzählen: Es handelt sich nämlich um zwei Flächen, zwei Wasserflächen, zwei Welten. Da ist einmal der See, Kühleborn, ein Märchengewässer, eine silberne Strömung, die etwas Magisches hat und in eine bestimmte Richtung führt; und das andere ist ein doppelbödiges Konstrukt, das Meerestiefen und etwas Unheimliches hat, eine und Innenwelt, die immer präsent bleibt.
IS: Inwiefern beziehen Sie sich auf die Gotik, die ja in der zeitlichen Verankerung des Märchens im Mittelalter angelegt ist?
CD: Mich interessiert die Unterschiedlichkeit. Mittelalterliche Architektur war immer ein Überbauen von Grabkammern. Dadurch hat sich die Gotik die Höhe erobert, die Architektur hat sich aufs Licht, auf Gott, ausgerichtet. In der Durchdringung von Licht und Raum
klingt die Idee von Seele an. Ich weiß nicht, was die Seele ist, und ich möchte es auch nicht wissen, und man erfährt es ja auch in der ganzen Oper nicht, aber ich glaube, dass die Eigenständigkeit des Menschen für diese Epoche eine besondere Rolle spielt, dass man also lernt, selbst Verantwortung zu tragen für das, was man tut.
Außerdem kann man die Standesunterschiede sehr gut damit erzählen. Die ganze Geschichte baut auf den Standesebenen auf. Es ist ja im Übrigen nicht so, dass dies heute alles nicht mehr existiert.
IS: Eine Ihrer ersten Arbeiten am Gärtnerplatz-Theater war die Melusine von Reimann. Sie haben Erfahrungen mit Wassergeistern.
CD: Ja, ich finde es schön, in der heutigen Zeit ein Geheimnis zu behaupten. Vertrauen ist ja das Schwerste, was man heute haben kann: Vertraue der Musik und höre einfach nur zu, ohne zu denken. Das bürgerliche Theater ist schon so zugeklebt, niemals unbelastet, insbesondere in unserer Zeit. Alles ist immer schon gedanklich, dogmatisch, ideologisch oder historisch schwer belastet. Vielleicht ist das ein unglaublicher Anspruch, aber ich liebe dieses erste Mal, ich liebe die Anstrengung, genau diese Frische zu erhalten. Es geht sicher weit über meine Aufgabe hinaus, aber ich glaube einfach, dass der Mensch nur dann gewinnen kann, Einsichten gewinnen kann, wenn er ein klares Gegenüber hat, über das er sich selbst seine Gedanken machen oder seine Wurzeln finden kann oder die Möglichkeit, sich zu öffnen.
Es ist ein sehr analytischer Zugang, aber in dem Sinne, dass die Emotionen nicht verloren gehen, damit dann wie der neu gehört werden kann. Ich möchte gar nicht mit dem Regietheater konkurrieren bzw. in Verbindung gebracht werden, weil ich ja eben genau nichts addieren will. Ich glaube nicht, dass der Mensch besser ist, als das, was er vorfindet.
Warum Streaming Vorurteile gegenüber der Oper bestärkt. Ein Kommentar von Ilka Seifert.
VAN Magazin vom 22. April 2020
Die großen Kulturinstitute wollen etwas Gutes tun und streamen darum gratis fürs Publikum - aus den Opernhäusern, Theatern und Konzertsälen. Groß beworben zeigt die Berliner Staatsoper eine Wiederaufnahme einer mindestens 15 Jahre alten Produktion der Carmen von Bizet. Super Idee. Beim Herumtreiben im Netz gerate ich eher zufällig in die Übertragung. Ich kenne die Inszenierung bereits in der Premierenbesetzung (mit Rolando Villazon als Don José) - kein ganz großer Wurf damals, aber auch nicht so, dass man nicht mal einen Blick hineinwerfen könnte. Jetzt schaue ich und bin unangenehm berührt
Eine Frau, als Carmen-Klischee in schwarzes Leder gepresst singt - im Übrigen wirklich sehr schön - die berühmte Habanera, immer in Nahaufnahme oder maximal in der Halbtotalen. Um ehrlich zu sein: Ich will das nicht sehen. Jedes Vorurteil, das viele Nicht-Opernbesucher:innen vor sich hertragen - dass dort unbewegliche Sänger:innen an der Rampe stehen und ohnehin nicht viel passiert -, wird da genährt, selbst wenn es heutzutage zum überwiegenden Teil gar nicht mehr stimmt. Diejenigen, die in den kostenlosen Corona-Angeboten des Lockdown einmal die Gelegenheit ergreifen, in solch einen Opernblockbuster hereinzuschauen, werden jedenfalls auf lange Zeit nicht für einen leibhaftigen Besuch in diesen Häusern zu gewinnen sein.
Eine Aufführung in Oper und Theater ist für die Totale gemacht. Es geht ums Ganze, alles ist sichtbar, es gibt Nebengeschichten, die Zuschauenden bestimmen ihren Fokus selbst, und es geht ums gemeinsame Erlebnis. Vorm Bildschirm bekomme ich einen Ausschnitt serviert, singend im Close up oft unvorteilhaft für die einzelnen Darstellenden und häufig an der eigentlichen Regieidee vorbei geschnitten, wenn ich den inszenierten Kommentar am Bühnenrand gar nicht erst gezeigt bekomme, den Blick der Singenden zur Seite nicht nachvollziehen kann, das Orchester nicht sehe und spüre. Die ureigene Künstlichkeit des Genres, die man nicht mögen muss, die aber ein echtes Alleinstellungsmerkmal der Oper darstellt, wird in die Pseudorealität von Fernsehbildern überführt. So lässt sich niemand für diese Kunstform gewinnen. Film ist ein Medium, in dem es genau um diese Regieentscheidungen im Schnitt geht. Für Oper und Theater funktioniert das nicht.
Nach dem Lockdown wird Oper nicht wie vorher sein. Zu Beginn der Schließungen fürs Publikum und jahreszeitlich passend konnte man noch vom >> Veranstaltungsfasten<<< lesen, als ginge es um einen freiwilligen, selbstgewählten und kurzzeitigen Verzicht. Zu befürchten ist aber, dass es mit der Wiederauferstehung nicht so einfach wird und sich an die Veranstaltungskultur nach dem Abklingen der Pandemie nicht so leicht wieder anknüpfen lässt. Neben den gewiss etwas länger anhaltenden und wahrscheinlich nicht einmal unberechtigten Ängsten, sich mit dem Besuch solcher Veranstaltungsorte erhöhter Ansteckungsgefahr auszusetzen, lässt sich die Tatsache nicht leugnen, dass Oper und Konzerte zu überwiegenden Teilen vor allem von den aktuell so bezeichneten Risikogruppen besucht werden, was vielleicht auch mit den zwar zeitlosen, aber nicht immer zeitgemäßen Themen oder Inszenierungen der aufgeführten Werke zu tun hat.
Im besten Falle entsteht nach Monaten der unfreiwilligen Abstinenz ein stärkeres Bewusstsein über die innere Qualität eines Veranstaltungsbesuches, wie besonders und aus dem Alltag herausragend es sein kann, eine starke künstlerische Erfahrung mit anderen geteilt zu haben. Im schlechtesten Falle wird der Ernst dieser Tage dazu führen, diese oft ja auch wirklich belang- und bedeutungslosen Aktivitäten künftig einfach auszulassen. Ist Oper wirklich wichtig? Systemrelevant, wie es jetzt heißt? Das Streaming scheint mir jedenfalls wenig geeignet, den teils berechtigten Zweifel an der Bedeutung der Oper auszuräumen.
Nutzen wir also den kollektiven Stubenarrest, um uns Gedanken zu machen, wie Kunst aussehen oder sich anhören muss, die unserem aktuellen Zustand Rechnung trägt.
Wahrscheinlich ist es dann ohnehin nicht Carmen, die uns von unseren jetzigen Gefühlen erzählen kann. La Corona lieferte inhaltlich ein gutes Thema für die nächste Uraufführungs-Produktion - mitsamt operntauglichem Titel.
Unsere frühesten Sinneseindrücke sind in unserem Gedächtnis am tiefsten verwurzelt: die Stimmen der Eltern, Geschwister, Großeltern - der Sound unserer Kindheit klingt unser ganzes Leben in uns nach. Was für jeden von uns im Allgemeinen gilt, löst sich für einen ebenso früh- wie hochbegabten Musiker wie den jungen Felix Mendelssohn in besonderem Maße ein. Er hat sein qualitativ und sogar quantitativ jedem Vergleich mit anderen Komponisten standhaltendes Lebenswerk zwischen seinem 11. und 38. Lebensjahr verfasst, bevor er 1847 sehr jung an einem Schlaganfall starb.
Aus welcher inneren Quelle mag Felix Mendelssohn geschöpft haben?Seine kompositorische Begabung und besonders seine melodische Erfindungskraft wurden früh bemerkt und bewundert. Felix und seine vier Jahre ältere Schwester Fanny wurden bereits als Kinder von professioneller Seite in ihrer musikalischen Entwicklung gefördert.
Innerhalb der Familie gab es zuvor schon über Generationen hinweg musikalisch herausragende Musikerinnen. Wie die neu erschienene musikwissenschaftliche Forschungsarbeit "Jüdische Musikelemente im Werk von Felix Mendelssohn" des Pianisten Raviv Herbst ebenso überraschend wie anschaulich darlegt, stammten Mendelssohns frühkindliche musikalische Eindrücke wesentlich von seiner jüdisch-orthodoxen Großtante, der Cembalistin Sara Levy, und vor allem seiner Großmutter Bella Salomon und die viel sang und einen großen Teil ihrer Zeit mit Felix und Fanny verbrachte. Die Melodieführung und Rhythmik der jüdisch-orientalischen Musik, die typischen Floskeln und Motive, so genannte "Maqamen" und "Shteyger", sind in fast allen Werken Felix Mendelssohns wiederzufinden, offenbar auch ihm unbewusst und selbst in Stücken, in denen er seine religiöse Konversion zum Christentum darstellte bzw.bekräftigte.
Aus diesen erstaunlichen Entdeckungen leitet sich die Idee zu einer ungewöhnlichen Konzertinstallation ab, die jene sprach Melodischen Eigenarten, die Mendelssohns spätere Kompositionen ganz maßgeblich beeinflusst haben, sinnlich erfahrbar machen soll.
Das Publikum wird für dieses Vorhaben selbst zum Teil einer musikalischen Landschaft, die die Zuhörer_innen wie Musiker_innen, einschließt. Aus der Stille kristallisiert sich eine einzelne Melodie heraus, die die jüdische Kantorin, Schauspielerin und Sängerin Jalda Rebling anstimmt. Musik jüdischer synagogaler Tradition entfaltet sich:
ein Gebet zum Schabbat, ein Segensspruch, ein chassidisches Lied Jalda Rebling wird hier zur Grenzgängerin, die die späteren Kompositionen Mendelssohns quasi auslöst und immer miterzählt, worauf sie sich gründen.
Sie umkreist und durchschreitet die Reihen des Publikums. Eine Melodie wird singend exponiert, bewegt sich im Raum, um von einem Instrument, Geige, Cello, Klarinette oder Klavier, aufgegriffen und weitergesponnen zu werden, erst in kleineren Formationen (Solisten, Klaviertrio, Streichquartett, Streichquintett etc.) bis hin zu einem Satz für Orchester aus Mendelssohns Streichersinfonien.
Spielerisch wechseln die Kantorin wie die Musiker_innen ihre Positionen innerhalb des Raumes, die Möglichkeiten der Schaubühne Lindenfels das Publikum von mehreren Seiten zu erreichen, sollen genutzt werden. In einer entsprechenden Lichtregie erzählt sich der überraschende musikalische Zusammenhang von nur auf den ersten Blick ganz unterschiedlichen Musiktraditionen.
Von der Premiere in der Schaubühne Lindenfels ausgehend soll das Projekt auch auf andere, klassische Konzertsäle und für Aufführungsorte wie das Berliner Radialsystem übertragbar sein, die immersive Anordnungen für Publikum und Mitwirkende suchen.
Das mendelssohn kammerorchester leipzig arbeitet für dieses Projekt zum ersten Mal mit der Kantorin Jalda Rebling zusammen. Die Dramaturgin Ilka Seifert gestaltete bereits zwei Konzerte aus der Reihe "Konzerte für Neugierige" für das mko. Gemeinsam mit dem Künstlerischen Leiter des Orchesters Peter Bruns und dem Konzertdesigner Folkert Uhde entwickeln sie Dramaturgie, Setting und Lichtregie dieser Konzertinstallation unter Einbeziehung der Architektur des Aufführungsortes und im direkten Kontakt mit dem Publikum.
Ilka Seifert
eine musik-theatrale Verführung nach William Shakespeare
Arbeit am Mythos
Metamorphosen erzählen vom Übergang in einen anderen Zustand. Der Vorgang der Verwandlung - mal zauberhaft poetisch, mal grausam und schrecklich - und sein Ergebnis, das verwandelte Objekt (Pflanze, Tier,Stern usw.), lassen das menschliche Wesen, das ein göttlicher Blick einmal gestreift hat, unsterblich werden und legen seine allegorischen,mythischen Qualitäten frei. Die Liebe der Götter ignorieren zu wollen,führt - davon künden zahlreiche Mythen der griechischen Antike - meistin den Untergang des Umworbenen und gleichzeitig in dessen unsterbliche Bildwerdung: Apoll und Daphne, die sich in einen Lorbeerbaum verwandelt, Zeus und Callisto, die erst in eine Bärin verzaubert wird undspäter als Sternbild fortlebt, oder eben Venus und Adonis, um einige der bekannteren Paare zu nennen.
Der über die Maßen schöne Jüngling Adonis interessiert sich für nichts als die Jagd. Venus, die Liebesgöttin selbst, hat sich in ihn verliebt und setzt ihre nicht unerheblichen Mittel ein, ihn für sich zu gewinnen - aber ihr Bemühen lässt ihn kalt. Allen Warnungen zum Trotz geht er zur Jagd und wird von einem wilden Eber getötet. Venus findet Adonis tot in seinem Blute liegend und verwandelt seinen Leichnam in eine wunderbar duftende rote Blume (Anemone oder Adonis-Röslein).
So ließe sich der Kern dieses Mythos über das Verhältnis von Liebe, Schönheit und Tod umreißen. Schon der römische Dichter Ovid (43 v. Chr.- 17 n. Chr.), dessen Sammlung von ganz unterschiedlichen Metamorphosen eine der frühesten Überlieferungen (nicht nur dieses Mythos') darstellt, hat diesen Kern bereits ausgeschmückt: Er beschreibt besonders, wie Venus vor lauter unerhörter Liebe ihre Pflichten vernachlässigt, die Insel Cythera (die Insel der Liebe natürlich) nicht mehr verlassen mag, selbst auf dem Olymp sich nicht mehr sehen lässt und sich Adonis' halber sogar für die Jagd zu interessieren beginnt.
William Shakespeare (1564-1616) entfaltete den Kern eben dieses Mythos' knapp 1600 Jahre später in ganz anderer Weise: In seinem Versepos erzählt er mit Erotik und Humor erst ausführlich vom Liebeswerben der Göttin, später von ihrer Rache und liefert am Beispiel dieses Mythos den Grund dafür, warum die Menschen sich auch in post mythischer Zeit mit der Liebe so schwer tun.
Als,,Arbeit am Mythos" hat der Philosoph Hans Blumenberg diesen lebendigen, kreativen und immer zeitgenössischen Umgang mit einer bekannten Grundkonstellation bezeichnet. Der Dramatiker Shakespeare veröffentlichte sein Versepos 1593 in einer Zeit, in der wegen der Pest keine öffentlichen Theateraufführungen erlaubt waren. Sein Erzählstil ist aber so lebendig und gespickt mit direkter Rede und Antwort, dass schon die Lektüre die Szenen sehr plastisch vors innere Auge treten lässt. Die Regisseurin Susanne Frey hat diesen Zug noch stärker betont, sie lässt Erzählerin und Sängerin munter zwischen den verschiedenen Figuren, Venus und Adonis, und den verschiedenen Funktionen, Sängerin und Erzählerin, hin- und herwechseln. Die Tatsache, dass dabei nur Frauen auf der Bühne agieren, verhindert eine Gleichsetzung der Darstellerinnen mit den Figuren des Epos' und stellt eine Antwort dar auf die Gepflogenheit des Elisabethanischen Theaters der Shakespeare-Zeit, alle Rollen von Männern spielen zu lassen. Zwischen den Genres des Musiktheaters sucht sich diese Erzählweise ihren eigenen Weg, der an die Technik von öffentlichen Märchen- und Geschichtenerzählern anknüpft, wie man sie heute vereinzelt noch im Orient findet.
Shakespeares Versepos inspirierte seinen Landsmann, den Komponisten John Blow, rund 100 Jahre später zu einer so genannten Masque, der ein Teil der Musik dieses Abends entstammt, kombiniert mit Arien von Monteverdi, Purcell, Scarlatti u.a. sowie kleinen musikalischen Überraschungen, die einen weiten Bogen zu Mozart, Schumann oder Offenbach schlagen. Die für einige der Werke ungewöhnliche Bearbeitung für Barockcello und Theorbe stammt von den beiden Instrumentalistinnen, die ihrerseits mit der Interpretation von Alter Musik aufs Engste vertraut sind.
Ilka Seifert
Von Lust erglüht ihr Antlitz kohlenheiß, Seins nur von Scham, sein Herz ist kalt wie Eis.
(William Shakespeare)